Mit Wildpinkeln für Tierrechte und gegen Speziesismus argumentieren? Das Amtsgericht Lübeck hatte dazu einen interessanten Ansatz.
Im Juni dieses Jahres erging ein Urteil des Amtsgerichts (AG) Lübeck, das mit einem Freispruch für einen Mann endete, dem „Wildpinkeln“ (in die Travemünder Ostsee) als Ordnungswidrigkeit vorgeworfen wurde (Urt. v. 29.06.2023, Az. 83a OWi 739 Js 4140/23 jug.)[1]abrufbar unter: https://www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de/bssh/document/JURE235010120/part/L (zuletzt abgerufen am 19.10.2023=).. Einige Zeitungen und andere Medien berichteten über das delikate Sujet sowie die Poesie der Entscheidung amüsiert. [2]Bspw.: M. Arndt; Bild, „Urteil mit Strahlkraft“; … Weiterlesen Sie übersahen jedoch den – aus hiesiger Sicht – kuriosesten und weitreichendsten Aspekt.
Worum ging es in dem Fall?
Grob zusammengefasst ging es in dem Fall darum, dass ein Besucher des Lübecker Volksfests „Travemünder Woche“ zu später Stunde am – wohl nur durch die Sterne beleuchteten – Strand mit zur Küste gerichtetem Rücken in die Ostsee urinierte.
Nach Auffassung des Gerichts hätten Umgebung und Gelegenheit eine nicht vorwerfbare Üblichkeit für die Tat begründet. So sei das Urinieren in die Natur unter anderem etwa bei Wanderungen, Radtouren, Badenden an Seen sowie Flüssen und bei sonstigen naturnahen Beschäftigungen gemeinhin geduldet. Insoweit könne man hier nicht von einer „Belästigung der Allgemeinheit“ im Sinne des § 118 Ordnungswidrigkeitengesetz ausgehen.
Das Gericht schloss sein Urteil mit den Worten:
„Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee.“
Diese abschließende Argumentation war zwar nicht die entscheidende, mit der das AG seine Rechtsauffassung begründete, dass in diesem Fall keine „Belästigung der Allgemeinheit“ vorlag. Sie war aber zumindest die Interessanteste.
Und warum?
Das Fazit eines Gerichts, dass Menschen keine geringeren Rechte als Tiere haben, ist für sich genommen kaum erwähnenswert. Es gibt zwar überzeugende Begründungen, mittels derer sich unter anderem aus dem Grundgesetz ableiten lässt, dass Tiere Rechtssubjekte (Träger von Rechten) sind. Diese Argumente, die PETA Deutschland e.V. dem Bundesverfassungsgericht im Jahr 2019 im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde vorgelegt hat, wurden jedoch nicht inhaltlich entschieden. Daher lebt in der Juristerei die staubige Idee fort, dass lediglich Menschen Rechtsträger:innen sein könnten. Und juristische Personen. Innerhalb dieser Logik wäre es deswegen nur schlüssig, wenn nicht von einem Mehr „in Rechten von Tieren“ gesprochen wird.
Und auch bei einer ethisch-antispeziesistischen Sichtweise kann der Puls niedrig bleiben: Hier geht man davon aus, dass eine nur an der Spezieszugehörigkeit orientierte Schlechterbehandlung willkürlich und falsch ist. Die Spezieszugehörigkeit allein vermag also kein „Mehr“ oder „Weniger“ an Rechten zu begründen, soweit dies nicht den artspezifischen Interessen und Bedürfnissen Rechnung trägt. Ein Vergleich der Bedürfnislage bei Mensch und Tier erlaubt den Schluss, dass „das Recht zu urinieren“ wohl keiner Spezies mehr oder weniger zusteht.
Allerdings kann man sich womöglich mit tierrechtlichem Blick erfreut die Augen reiben: Denn immerhin spricht das Gericht überhaupt von „den Rechten“ des Rehs, des Hasen sowie der Robbe. Wertet man diese Aufzählung als Sinnbild für den Oberbegriff „Tiere“, dann könnte man das Gericht so verstehen, dass es von der Rechtssubjektqualität von Tieren ausgeht.
Es wäre spannend gewesen, wenn sich das Gericht auch zu anderen tierlichen Rechten geäußert hätte; wie etwa dem Recht auf Freiheit, körperliche Unversehrtheit oder Leben. Das AG Lübeck ist mit diesem Urteil aber zumindest einen kleinen Schritt in Richtung Tierrechte „gestolpert“. Damit kam es weiter als das Bundesverfassungsgericht. Tierrechtler:innen dürfen also konstatieren: Es war eine gute Entscheidung.
ist seit April 2020 Justiziarin im PETA-Rechtsteam in Berlin. Sie befasst sich vorwiegend mit Fragen und Fällen des Allgemeinen Tierschutzrechts, des Tierschutzstrafrechts und des Medienrechts.
Quellen