Homo sapiens – vernünftiger Mensch.
Diesen Namen hat uns kein allwissender und in seiner grenzenlosen Weisheit unfehlbarer Gott gegeben. Bescheiden, wie wir nun mal sind, haben wir uns diesen Namen selbst gegeben. Offenkundig gehen wir davon aus, dass die Vernunft Teil unserer DNA ist. Sie scheint das entscheidende Merkmal zu sein, welches uns von der übrigen Tierwelt abgrenzt. Diesem Selbstbild entsprechend hat der deutsche Gesetzgeber im Jahre 1972 das Tierschutzgesetz erlassen, welches es verbietet, einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen.[1]Vgl. § 1 S. 2 TierSchG, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html [zuletzt abgerufen am 05.07.2022]. Anders formuliert: Als (deutscher) Homo sapiens quälen, foltern und töten wir andere Tiere nur dann, wenn es vernünftig ist. So die Theorie.
Täglich mehr als zwei Millionen Tiere
Geht man davon aus, dass das deutsche Tierschutzgesetz seit seinem Inkrafttreten am 01.10.1972 konsequent angewendet wird, bedeutet das, dass die Tötung von täglich mehr als zwei Millionen Tieren vernünftig sein muss. Denn so vielen Tieren nimmt man in Deutschland jeden Tag ihr Leben,[2]Brandt, Über 2 Millionen Tiere werden täglich geschlachtet, https://de.statista.com/infografik/22076/anzahl-der-durchschnittlich-pro-tag-in-deutschland-geschlachtete-tiere/ [zuletzt abgerufen am … Weiterlesen um ihre Körperteile dem menschlichen Verzehr zuzuführen. Schlachten nennt man diesen Vorgang. Diese Tiere werden aber nicht nur getötet und somit größtmöglich geschädigt. Wir fügen ihnen vor der Tötung zunächst auch noch erhebliche Leiden und Schmerzen zu, indem wir sie krank züchten, sie auf engstem Raum zusammenpferchen, sie in ihren eigenen Fäkalien vor sich hinvegetieren lassen und ihnen – teilweise ohne Betäubung – Körperteile abtrennen.
Diesen von der Geburt bis zum Tod andauernden Vorgang nennt man Mast. Das Leben der Hühner, deren Eier wir essen, und das Leben der Kühe, deren Milch wir trinken, sieht dabei nicht anders aus und endet ebenfalls vorzeitig auf der Schlachtbank. Im „Land der Dichter und Denker“ werden jährlich somit weit mehr als 700 Millionen Tiere getötet, an deren leid- und schmerzerfülltem Leben niemand zweifeln kann, der die Zustände in den Tierfabriken und Schlachthöfen kennt. Die unvorstellbar große Zahl an Tieren, die wir für unseren Konsum mästen und schlachten, zwingt zu der Frage, ob es wirklich einen vernünftigen Grund gibt, der das Leiden, den Schmerz und den Tod dieser Tiere zu rechtfertigen vermag. Der 50. Geburtstag unseres Tierschutzgesetzes soll daher nicht vergehen, ohne näher zu beleuchten, ob das Töten und Quälen von Tieren zum Zwecke der Nahrungsmittelproduktion tatsächlich von Vernunft getragen ist.[3]vgl. hierzu auch „Saskia Stucki über Tierrechte – Welche Rechte haben Tiere“ im detektor.fm-Podcast Ach, Mensch vom 13.07.2022, ab Minute 14:50, abrufbar unter … Weiterlesen
Vernunft in der Philosophie
Diese Frage lässt sich nicht beantworten, ohne vorher zu klären, was überhaupt unter Vernunft zu verstehen ist. Zwar ist der Begriff in aller Munde und es wird wohl kaum jemanden geben, der nicht schon an der Vernunft seiner Mitmenschen gezweifelt hat. Eine handfeste Definition, mit der sich juristisch einigermaßen arbeiten lässt, werden aber nur die wenigsten parat haben. Ein Blick ins Lexikon oder in eine Enzyklopädie kann hier Abhilfe schaffen. So kann man etwa im Brockhaus lesen, dass der Begriff „Vernunft“ von „vernehmen abgeleitet wird und allgemein Besonnenheit, Einsicht, Geist und Intelligenz bedeutet.“[4]Vgl. Brockhaus, Lexikon 2006, Stichwort „Vernunft“. In anderen Werken wird als praktische Vernunft das Vermögen bezeichnet, nach einer Maxime zu handeln, die Anspruch auf universelle Geltung erheben kann.[5]Vgl. Schmidt/Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1974, Stichwort „Vernunft“.
Juristische Einordnung
Im Gegensatz zu Philosoph:innen beschäftigen sich Jurist:innen regelmäßig erst dann mit dem Thema Vernunft, wenn die Gesetzgebung – wie im Falle des Tierschutzgesetzes – sie dazu zwingt. Mit der Frage, was unter einem vernünftigen Grund zu verstehen ist, haben sich seit 1972 daher auch Richter:innen und andere Rechtsgelehrte befasst. Die Quintessenz, die sich hieraus ziehen lässt, ist, dass ein Grund nur dann als vernünftig angesehen werden kann, wenn er dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Güterabwägungsprinzip gerecht wird.[6]BVerwG, Zeitschrift für Agrarrecht 1982, S. 101 f.; OVG Münster, Neue Zeitschrift f. Verwaltungsrecht, 2001, S. 227 f.; OVG Bremen, Natur und Recht, 1999, 227, 229; OLG Celle, Natur und Recht 1994, … Weiterlesen
Verhältnismäßig ist eine tierschädigende Handlung nur dann, wenn sie die Erreichung eines legitimen Zwecks fördert und kein milderes, zur Zweckerreichung gleichermaßen geeignetes Mittel zur Verfügung steht.
Darüber hinaus ist im Rahmen einer ganzheitlichen Güter- und Interessensabwägung zu prüfen, ob der von dem Eingriff in das Leben und Wohlbefinden der Tiere ausgehende Nutzen so gewichtig ist, dass er die Beeinträchtigung der Belange der Tiere wesentlich überwiegt.[7]Hirt/Maisack/Moritz, Kommentar TierSchG, 3. Auflage, § 1 TierSchG, Rn. 54.
Mehr Nutzen als Schaden
Fasst man die philosophischen und juristischen Erkenntnisse zusammen, so ist festzustellen, dass man einem Tier nach geltendem Recht nur dann schaden darf, wenn der davon ausgehende Nutzen für den Menschen den Schaden für das Tier wesentlich überwiegt.[8]Hirt/Maisack/Moritz, Kommentar TierSchG, 3. Auflage, § 1 TierSchG, Rn. 54. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, kann ein vernünftiger Grund angenommen werden. Verursacht eine Handlung mehr Schaden als Nutzen, so beruht sie augenscheinlich nicht auf einer Maxime, die Anspruch auf universelle Geltung haben kann, und entspricht folglich nicht der praktischen Vernunft.[9]Vgl. Hirt, Zum Begriff des vernünftigen Grundes im Tierschutzrecht, S. 76. Die aus juristischer Sicht vorzunehmende Prüfung der Verhältnismäßigkeit und Interessensabwägung kann letztlich auch nur zum Erfolg führen, wenn unser Interesse am Eingriff in das Leben der Tiere zum Zwecke der Nahrungsmittelproduktion schwerer wiegt als das Integritätsinteresse der Tiere.[10]Vgl. Hirt, Zum Begriff des vernünftigen Grundes im Tierschutzrecht, S. 142. Dies kann nur angenommen werden, wenn der Nutzen größer ist als der Schaden. Die entscheidende Frage muss daher lauten: Ist der Nutzen, den die Fleisch-, Milch- und Eierproduktion[11]Zum Leiden der Tiere in der Milch- und Eierindustrie siehe auch: https://www.peta.de/themen/milch/; https://www.peta.de/themen/eier/. dem Menschen bringt, so groß, dass er als Rechtfertigung für das Leid, den Schmerz und den Tod der gemästeten und geschlachteten Tiere in Betracht kommt?
Der Nutzen der Tierindustrie
Wir züchten, halten und töten Kühe, Schweine, Hühner und andere Tiere, um aus ihren Körpern, ihrer Milch oder ihren Eiern Nahrungsmittel herzustellen. Auf den ersten Blick ein berechtigtes Anliegen. Da wir im Gegensatz zu anderen Erdbewohnern nicht die Kunst der Photosynthese beherrschen, müssen wir bestimmte Stoffe über die Nahrung zuführen. Tun wir das nicht, so werden wir – je nach Fettreserve – innerhalb weniger Wochen aussterben. Man könnte also zu der Auffassung gelangen, dass der Konsum tierischer Lebensmittel unser Überleben sichert und uns folglich den größtmöglichen Nutzen bringt. Es mag Zeiten gegeben haben, in denen der Mensch andere Tiere essen musste, um sich diese Stoffe in hinreichenden Mengen zuzuführen und damit zu überleben. Die Sicherung der eigenen Existenz und der Erhalt der eigenen Art ist zweifelsohne ein Interesse, welches besonders schwer wiegt und vieles, je nach Weltanschauung sogar alles rechtfertigt.
Auf diese Rechtfertigungslage können sich Menschen in Deutschland im Jahr 2022 allerdings sicher nicht mehr berufen. Schweineschnitzel, Gouda, Spiegelei und andere Nahrungsmittel tierischen Ursprungs landen bei uns ausschließlich aus kulinarischen Gründen auf dem Teller. Eine ernährungsphysiologische Notwendigkeit zum Konsum dieser Produkte besteht nicht. Unser Bedarf an Makro- und Mikronährstoffen lässt sich auf sehr schmackhafte Art und Weise mit einer rein pflanzlichen Ernährungsweise decken. Die rasant steigende Zahl an Menschen, die sich schon über viele Jahre vegan ernähren, zeigt deutlich, dass sich Pflanzenkost, Genuss und Gesundheit gut miteinander vereinbaren lassen. Den Schaden, den wir den Tieren zufügen, fügen wir ihnen somit nur zu, um uns selbst eine kurze Gaumenfreude zu verschaffen.
Schattenseiten
Der Nutzen der Tierindustrie besteht also allenfalls darin, dass unsere auf Gewohnheit und Tradition beruhenden kulinarischen Vorlieben befriedigt werden. Eigentlich sollte an dieser Stelle schon klar sein, dass dieser Nutzen nicht geeignet ist, schwerwiegende Eingriffe in das Leben unserer Mitgeschöpfe zu begründen. Alles andere würde bedeuten, dass man banale menschliche Interessen elementaren tierischen Interessen überordnet. Das wiederum ist weder verhältnismäßig noch Ausdruck einer ganzheitlichen Interessenabwägung.
Für jeden wird das Ergebnis der Nutzen-Schaden-Abwägung aber spätestens dann offenkundig, wenn man die vorzunehmende juristische Bewertung vollständig durchführt. Das bedeutet, dass auch die Nachteile, die unsere ernährungsbedingte Tiernutzung für uns Menschen hat, in die Abwägung mit einbezogen werden müssen. Nur wenn diese „Schattenseiten“ berücksichtigt werden, lässt sich der vermeintliche Nutzen einer tierbasierten Ernährung für den Menschen abschließend beurteilen. Folgende Aspekte müssen daher berücksichtigt werden:
- Etwa 14,5 Prozent aller menschengemachten Treibhausgasemissionen werden durch die sogenannte landwirtschaftliche Nutztierhaltung verursacht.[12]Wichtige Fakten und Erkenntnisse, https://www.fao.org/news/story/en/item/197623/icode/ [zuletzt abgerufen am 05.07.2022]. Damit trägt die Produktion von Fleisch und anderen tierischen Lebensmitteln erheblich zum Klimawandel – der wahrscheinlich größten Gefahr für die Existenz des Menschen – bei. Eine Studie, welche das Institute for Agriculture and Trade Policy (IATP) mit der Umweltorganisation Grain erarbeitet hat, kommt zu dem Ergebnis, dass die fünf weltgrößten Fleisch- und Molkereikonzerne zusammen für mehr Treibhausgas-Emissionen verantwortlich sind als jeweils die drei größten Ölkonzerne – ExxonMobil, Shell und BP.[13]Röhlig, Die 5 größten Fleisch- und Molkereikonzerne schaden unserem Klima mehr als die größten Ölkonzerne, … Weiterlesen Der Studie lässt sich weiterhin entnehmen, dass der gesamte Tierbestand bis 2050 etwa 80 Prozent des Treibhausgasbudgets verbraucht, wenn die Branche so weiterwächst.
- Die Tierhaltung begünstigt die Entstehung von Pandemien. Drei Viertel der neu auftauchenden Krankheitserreger, die den Menschen bedrohen, stammen aus zoonotischen Quellen, das heißt, sie werden von Tieren auf den Menschen übertragen.[14]Schmidinger, Wie Tierproduktkonsum zu Pandemien beiträgt, https://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/tierproduktkonsum-pandemien [zuletzt abgerufen am 28.04.2022]. Nach Aussage des renommierten Virologen Christian Drosten bietet die Tierhaltung „die idealen Bedingungen für einen Virus, um sich an den Menschen anzupassen. Hier steckt das Risiko für künftige Pandemien.“[15]Di Lorenzo/Sentkger/Drosten, Ich hoffe, dass man nicht wieder Schulen schließt, https://www.zeit.de/2021/46/christian-drosten-coronavirus-virologie-pandemie-wissenschaft-impfung/komplettansicht … Weiterlesen
- Der Tierproduktekonsum ist die größte Nahrungsmittelvernichtungsmaschinerie und trägt somit erheblich zum Welthunger bei. Aus dem „globalen Süden“ werden pflanzliche Nahrungsmittel für unsere sogenannte Nutztierhaltung exportiert. Die Redewendung „Die Tiere der Reichen essen das Brot der Armen“ ist aktueller denn je. 75 Prozent der weltweit angebauten Sojabohnen werden für die Tierernährung verwendet.[16] Kohler, Wer Soja isst, zerstört den Regenwald, https://www.nzz.ch/panorama/montagsklischee/soja-wird-hauptsaechlich-fuer-tierfutter-produziert-ld.837499 [zuletzt abgerufen am 28.04.22]. In Deutschland landen zudem knapp 60 Prozent des Getreides in den Mägen der Tiere.[17]Mencke, Verzicht auf Schweinefleisch könnte Getreidemangel ausgleichen, … Weiterlesen
- Die Herstellung tierischer Proteine ist eine der Hauptursachen für die Zerstörung des Regenwaldes, der grünen Lunge der Erde. Tropenwälder werden im großen Stil gerodet, um Ackerland zum Anbau von Pflanzen für die Ernährung von Tieren und Weideland für die Rinderhaltung zu schaffen. So sind zum Beispiel 60 bis 75 Prozent der neu gerodeten Flächen im Amazonasgebiet auf die Schaffung von Weideland zurückzuführen.[18]Der Appetit auf Fleisch und seine Folgen, https://www.wwf.de/themen-projekte/landwirtschaft/ernaehrung-konsum/fleisch/der-appetit-auf-fleisch-und-seine-folgen [zuletzt abgerufen am 04.05.2022].
Unvernünftig und gesetzeswidrig
Wenn man jedes Jahr mehrere hundert Millionen Tiere tötet, dann braucht es hierfür einen verdammt guten Grund, nämlich einen vernünftigen Grund. Die Produktion eines Lebensmittels, das niemand braucht und dessen Herstellung globale Ungerechtigkeit fördert, den Planeten ruiniert und somit unsere Existenz gefährdet, genügt ohne jeden Zweifel nicht den Anforderungen, die an einen vernünftigen Grund zu stellen sind. Wer unseren Tierproduktekonsum als vernünftig einordnet, für den ist wahrscheinlich auch Bungeejumping ohne Seil vernünftig. Denn es erfordert offenkundig eine gewisse selbstzerstörerische Grundhaltung, um den Konsum von Fleisch, Milch und Eiern als von Vernunft getragen einzustufen. Mit Vernunft im eigentlichen Sinne hat das nichts zu tun. Unsere tierbasierte Ernährung schadet nicht nur den dafür missbrauchten Tieren, sie schadet letztlich auch uns. Etwas zu tun, das für alle Beteiligten in erster Linie mit Nachteilen verbunden ist, ist der Inbegriff der Irrationalität.
Seit 50 Jahren ist es gesetzlich verboten, Tieren ohne vernünftigen Grund Leiden, Schmerzen oder Schäden zuzufügen. Seit 50 Jahren verstoßen wir jährlich in mehreren hundert Millionen Fällen gegen dieses Gesetz, indem wir Tiere halten, mästen und töten, um auf diese Art und Weise Nahrungsmittel zu produzieren. Es bedarf somit keiner wissenschaftlichen Studie, um zu belegen, dass das Tierschutzgesetz das Gesetz in Deutschland ist, gegen das mit Abstand am häufigsten folgenlos verstoßen wird.
Was war, lässt sich bedauerlicherweise nicht mehr ändern. Einfluss haben wir aber auf das, was kommt. Wenn wir uns also künftig gesetzeskonform verhalten wollen, haben wir zwei Möglichkeiten. Zum einen könnten wir das Tierschutzgesetz an unser derzeitiges Konsumverhalten anpassen und es dahingehend ändern, dass es auch ohne vernünftigen Grund erlaubt ist, Tieren Leiden, Schmerzen oder Schäden zuzufügen. Sofern wir uns mit diesem moralischen Rückschritt in die Zeit vor 1972 jedoch nicht abfinden und stattdessen aktiv etwas gegen künftige Pandemien, Nahrungsmittelknappheit und den Klimawandel tun wollen, dann steht uns als zweiter Weg die Anpassung unseres Konsumverhaltens an das geltende Recht offen. Das mag zwar anfänglich der unbequemere Weg sein, aber im Ergebnis der für alle Beteiligten befreiende. Zudem hätten wir dann die Chance, das zu werden, wovon wir glauben, es bereits zu sein: ein Homo sapiens.
war von 2021 bis 2022 Justiziar im PETA-Rechtsteam in Berlin. Im Rahmen seiner Tätigkeit befasste er sich schwerpunktmäßig mit Fragen und Fällen des Jagd- und Tierschutzrechts.
Quellen